Glaubst du, daß du fern bist

Elisabeth Naomi Reuter_Martha – G. Kolmar

Die Verlassene
An K. J.

Du irrst dich. Glaubst du, daß du fern bist
Und daß ich dürste und dich nicht mehr finden kann?
Ich fasse dich mit meinen Augen an,
Mit diesen Augen, deren jedes finster und ein Stern ist.

Ich zieh dich unter dieses Lid
Und schließ es zu und du bist ganz darinnen.
Wie willst du gehn aus meinen Sinnen,
Dem Jägergarn, dem nie ein Wild entflieht?

Du läßt mich nicht aus deiner Hand mehr fallen
Wie einen welken Strauß,
Der auf die Straße niederweht, vorm Haus
Zertreten und bestäubt von allen.

Ich hab dich liebgehabt. So lieb.
Ich habe so geweint … mit heißen Bitten …
Und liebe dich noch mehr, weil ich um dich gelitten,
Als deine Feder keinen Brief, mir keinen Brief mehr schrieb.

Ich nannte Freund und Herr und Leuchtturmwächter
Auf schmalem Inselstrich,
Den Gärtner meines Früchtegartens dich,
Und waren tausend weiser, keiner war gerechten

Ich spürte kaum, daß mir der Hafen brach,
Der meine Jugend hielt – und kleine Sonnen,
Daß sie vertropft, in Sand verronnen.
Ich stand und sah dir nach.

Dein Durchgang blieb in meinen Tagen,
Wie Wohlgeruch in einem Kleide hängt,
Den es nicht kennt, nicht rechnet, nur empfängt,
Um immer ihn zu tragen.

Gertrud Kolmar

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Dorthin geh, wo die Andern nicht sind

 

Meindert Hobbema_Allee von Middelharnis 1689

Dorthin geh, wo die Andern nicht sind

Dorthin geh, wo die Andern nicht sind,
Weit hinaus in die freie Einsamkeit,
Wo dir Wolken, Berge, Bäume und Wind
Großes reden von Später und Ewigkeit.

Und dort schöpfe, fasse und füll dir die Brust,
Daß – kommt einst die Stille zu dir als Braut –
Daß du die Hand ihr gibst in tiefster Lust,
Weil du schon lange mit ihr vertraut.

Ringelnatz_Gedichte 1910

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Sommerfrische – trotz alledem

Franz Radziwill_ Dangaster Pferderennbahn 1934

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Zwischen Wänden

 

Edward Hopper_Morgensonne (1952)

 

 

Zwischen meinen Wänden

Ich danke dir: Ich bin ein Kind geblieben,
Ward äußerlich auch meine Schwarte rauh.

Zu viele Sachen weiß ich zu genau
Und lernte mehr und mehr die Wände lieben.

Doch zwischen Wänden, wenn die Fantasie
Ein kleines Glück so glücklich zu erfassen
Imstande ist, daß wir uns sagen: Nie
Uns selber lieben! Nie das andre hassen!
Nur einsam sein! – –
Spricht oft mein Innerstes zu solcher Weisheit: Nein!
Denn all mein Sinnen lauscht, ob fremde Hände
Jetzt etwa klopfen werden an mein einsam Wände,
Und wenn’s geschähe, rief es laut: Herein!!!

Ringelnatz (1934)

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Rezept

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Elisabeth Naomi Reuter_Kafka – Der Fahrgast

 

 

Rezept

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.
Lebe auf Zeit und sieh,
wie wenig du brauchst.
Richte dich ein.
Und halte den Koffer bereit.

Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.

Erwarte nichts.
Und hüte besorgt dein Geheimnis.
Auch der Bruder verrät,
geht es um dich oder ihn.
Dein eignen Schatten nimm
zum Weggefährten.

Feg deine Stube wohl.
Und tausche den Gruß mit dem Nachbarn.
Flicke heiter den Zaun
und auch die Glocke am Tor.
Die Wunde in dir halte wach
unter dem Dach im Einstweilen.

Zerreiß deine Pläne. Sei klug
und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
im großen Plan.
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

Mascha Kaléko

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Dammbruch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ringelnatz_Das Rettungsboot 1927

 

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Jakob van Hoddis (1887 in Berlin – 1942 vermutlich im Vernichtungslager  Sobibór)

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Muttersprachlos

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Felix Nussbaum_ Die Perlen (Trauernde), 1938

 

„Holocaust 1944“
Für meine Mutter

Ich weiß nicht
In welcher fremden, fernen Erde
Sie Dich begraben haben;
Auch nicht welche rauhen, nördlichen Winde
Durch die Stoppeln jagen,
die trocknen, harten Stoppeln
Auf Deinem Grab.

Und hast Du an mich gedacht
An jenem frost-blauen Dezembermorgen
Schwer von Schnee und beißend kalt,
Als Du nackt und vor Kälte zitternd
Unter dem bleifarbenen Himmel gingst
In jenem letzten Moment
Als Du wußtest, die ist das Ende
Das Ende vom Nichts
Und der Anfang vom Nichts, Hast Du an mich gedacht?

Oh, wie ich mich an Dich erinnere, Du so sehr Geliebte,
Deine blassen Hände erhoben
In alter Weise segnend,
Deine Augen hell leuchtend
Über den Kerzen
Den Segen anstimmend
Gelobt sei der Herr.

Und dies ist der Schmerz,
Lähmender Schmerz und Entsetzen,
Daß es letztlich kein Martyrium war,
Sondern nur sinnlos –
Die Sinnlosigkeit des Sterbens
Das Ende vom Nichts
Und der Anfang vom Nichts.
Ich weine rote Tränen aus Blut. Von Deinem Blut.

Anne Ranasinghe (2. Oktober 1925 in  Essen – 17. Dezember 2016 in Colombo, Sri Lanka)

 

Anne Ranasinghe (geboren als Anneliese Katz) wurde als 13jährige am 26. Januar 1939 mit einem Kindertransport nach England geschickt. Ihre Eltern sah sie nicht wieder. „Hier endete mein jüdisches Leben“, schreibt sie, „ich erlebte die totale Trennung von Eltern, Zuhause, Heimat, Freunden, Sprache und Religion“. Von der jüdischen Familie Katz war Anneliese die einzige, die überlebte.

Weiterlesen:

Verbranntes Holz und Angst um Mitternacht

„Ich weiß, dass es weder in Häusern noch in Worten Sicherheit gibt“

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Blauen über Blätterbraun

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paul Klee_Der Bote des Herbstes 1922

 

Herbst

Eine trübe, kaltfeuchte Wagenspur:
Das ist die herbstliche Natur.
Sie hat geleuchtet, geduftet, und trug
Ihre Früchte. – Nun, ausgeglichen,
Hat sie vom Kämpfen und Wachsen genug. –
Scheint’s nicht, als wäre alles Betrug
Gewesen, was ihr entwichen?!

Das Händesinken in den Schoß,
das Zweifeln am eignen, an allem Groß,
Das Unbunte und Leise,
Das ist so schön, daß es wiederjung
Beginnen kann, wenn Erinnerung
Es nicht klein machte, sondern weise.

Ein Nebel blaut über das Blätterbraun,
Das zwischen den Bäumen den Boden bedeckt.

Wenn ihr euren Herbst entdeckt:
Dann seid darüber nicht traurig, ihr Fraun.

Ringelnatz 1934

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Altweibersommer – Teil 1

Als Hedwig abends erwachte, fühlte sie sich schlecht. Erschöpft und unausgeschlafen. Dabei hatte sie doch den ganzen Tag über regungslos in ihrem Netz gehockt und sich ausgeruht. Was war bloß los? Sie kam nicht drauf.

“Geh systematisch vor, Hedwig!“, ermahnte sie sich. Also zählte sie ihre acht Beine sorgfältig, machte eine paar Kniebeugen, dehnte und reckte sich und krabbelte einen kleinen Rosenzweig herauf. Bein Nummer vier und fünf knackten ein bisschen, aber sonst war alles in Ordnung.

Hedwig hatte nämlich ihre Beine nummeriert, im Uhrzeigersinn von eins bis acht. Das war bitter nötig gewesen, weil sie ständig rechts und links verwechselte und oben und unten und hinten und vorn. So manches Mal hatte sie es tatsächlich geschafft, einen dicken Knoten in ihre Beine zu drehen. So schusselig war sie. Ihre Netze waren eine glatte Katastrophe, meinte ihre beste Freundin Gertrud. Von ihr stammte der Vorschlag mit der Nummerierung. Viel geholfen hatte es bisher nicht.

Hedwig kratzte sich mit Bein Nummer drei am Kopf.

Mit Bein Nummer sieben bohrte sie in der Nase.

Dann nahm sie Anlauf und schwang sich an einem Faden zum nächsten Rosenzweig.

Sie massierte sich mit den Beinen fünf und sechs den Bauch.

Ihr ging es immer noch schlecht.

Sie stützte den Kopf auf die Beine acht und eins und überlegte.

Und dann fiel ihr auch wieder ein warum.

Gegen Morgen war der schöne Arthur vorbeigekrabbelt. Der Weberknecht gehörte zum Komitee der Spinnenaktion “Wer baut das schönste Netz” und musste deshalb alle Gespinste begutachten. Seine Stimme hatte großes Gewicht, er war der begehrteste Junggeselle im weiten Umkreis.

In den letzten Tagen des Spätsommers versammeln sich deshalb die Spinnen im Garten und zwischen Gräsern, Blumen, Zweigen, Büschen, an Dachrinnen und Fensterläden, an Zäunen und Mauern weben sie, was das Zeug hält.

Jede bekommt einen bestimmten Platz zugewiesen. Hedwig war ganz hinten im Garten auf der Kletterrose gelandet, die das hölzerne Gartenhaus mit ihren langen Ranken überwucherte. Eine ziemlich ungünstige Position.  Die meisten Rosen waren verblüht und an ihrer Stelle hatten sich Hagebutten gebildet. Die schönsten Stellen zwischen Rittersporn, Dahlien, Goldruten und  hohen Ziergräsern  bekamen traditionsgemäß die Mitglieder aus dem Club der Spinnerinnen. Hier wurden nur Spinnen aufgenommen, die besonders kunstvolle Netze weben können. Die Trichterspinne Klara und die Baldachinspinne Brunhilde gehören dazu, aber auch ihre Freundin Gertrud, die als Kreuzspinne ein sehr regelmäßiges Radnetz baut. Trotzdem hatte Hedwig sich große Mühe gegeben und ihr Netz während der Nacht dreimal neu gebaut.

Aber Arthur hatte nicht mal einen einzigen Blick darauf geworfen. Statt dessen hatte er mit Hedwigs Nachbarin, der Zitterspinne Elvira geschäkert. Elvira hatte ihre unendlich langen zierlichen Beine elegant gekreuzt und Arthur nach allen Regeln der Kunst umgarnt. Hedwig konnte Elvira nicht ausstehen.

Im Stillen hatte sie gehofft, ihr Netz würde Arthur endlich dazu zu bringen, dass er sie beachtete. Arthur war nämlich ihre große Liebe. Aber bisher war sie Luft für ihn.

Zugegeben, ihr Netz war nicht perfekt. In der Mitte waren ein paar dicke Löcher. Und die Fadendicke war unterschiedlich.

Ihre Freundin Gertrud, die Kreuzspinne, hatte die Nase gerümpft. Und dann vor sich hinschimpfend die gröbsten Fehler ausgebessert. Sie war äußerst pingelig mit ihrer Arbeit und duldete nicht die kleinste Unregelmäßigkeit. Das war ziemlich anstrengend, dachte Hedwig manchmal. Aber trotz ihrer Pingeligkeit hatte Gertrud einen großen Vorteil. Als Freundin war sie treu wie Gold. Sie riss sich fast ein Bein dabei aus, um Hedwig zu helfen. So eine Freundin war unbezahlbar.

Auch nach dem Flicken war Gertrud nicht zufrieden mit dem Netz. Zum Fliegenfangen konnte man es zur Not gebrauchen, hatte sie gebrummt. Und dabei taktvoll verschwiegen, dass Hedwigs Netz beim Wettbewerb nicht die geringste Chance hatte.

Hedwig dagegen war diesmal überzeugt gewesen, dass es klappen könnte. Denn in der kühlen Nacht werden die Netze von Nebel und Tau benetzt und tagsüber glitzern und funkeln dann die Fäden im Sonnenlicht wie lange silbergraue Haare. z

Die Menschen nennen diese Zeit Altweibersommer.

®Perlengazelle

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Jugend

 

 

 

 

 

 

 

 

Paul Klee_Senecio (Baldgreis) 1922

 

Jugend

Noch lockt die Welt mich mit den bunten Dingen,

Die strahlen, wenn sie am Ermatten sind.

Ich bin der Welt ein überstarkes Kind

Und keine Lüge will mir ganz gelingen.

 

Noch treffen sich des Werdens fremde Quellen,

Da draußen, wo Begrenzung Meister ist,

Wo Formeln gelten, die i h r nicht mehr wißt,

Wo Kreise Rätsel sind, endlos, wie Wellen.

 

Mala Laaser – Jugend, 39. Jahrgang, 1934, Nr. 13

 

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